Das Yogasutra stellt einen Leitfaden für den Yogaweg dar, der auf Patanjalis Erfahrungen beruht. Sutra bedeutet nichts anderes als Faden. Es ist eine besondere Versform im Sanskrit, die grammatikalisch unvolständige Sätze verwendet (da auf überflüssige Wörter gänzlich verzichtet wird), welche in ihrem Zusammenhang einen höheren Sinn ergeben. Das lässt großen Spielraum für Interpretation, was die Vielzahl der erschienenen Kommentare erklärt.
Einführung, Übersetzung und Erläuterung von R. Sriram
Zur Vorbereitung auf die Yogalehrerausbildung habe ich den Kommentar von R. Sriram, erschienen im Theseus Verlag, gelesen. Er ist mit einem ausführlichen Vorwort versehen, das die wichtigsten Fremdworte und den Zweck des Yogasutras einschließlich Srirams Kommentars erklärt. Die 195 Sutras sind in vier Kapitel unterteilt. Jedem Kapitel geht eine detaillierte Zusammenfassung voran, in der die Bedeutung und der Zusammenhang der Sutras erklärt wird. Anschließend folgen die einzelnen Sutras in Sanskrit und Übersetzung, mit einer Aufdröselung jedes einzelnen Sanskrit-Wortes und einer kurzen Erläuterung. Am Ende des Buches befindet sich noch ein umfassendes Glossar.
Kapitel 1: Die vollkommene Erkenntnis
Das erste Kapitel nennt das Ziel des Yoga, den Geist (Citta) über verschiedene Meditations- bzw. Konzentrationsformen zur Ruhe zu bringen. Dazu sind beständiges Üben und Gleichmut (das heißt, ein gegenüber den äußerlichen Einflüssen und Veränderungen standhaften Geist) nötig. Bevor im nächsten Kapitel konkrete Übungen genannt werden, werden zuerst die Beschaffenheit des Geistes und seine Wahrnehmungsformen (z.B. richtige Wahrnehmung, Verblendung, Erinnerung) beschrieben. Außerdem wird der Unterschied zwischen dem meinenden Selbst (Citta) und dem sehenden Selbst (Drasta) und ihre gegenseitige Beeinflussung erklärt. Während Drasta, das sehende Selbst, der beständige Teil in uns ist, der die Wirklichkeit ungetrübt erkennt, ist Citta unser Geist, der anfällig für äußere Meinungen und Einflüsse ist. Er ist somit unstet und die aus Citta gewonnen Erkenntnisse sind relativ. Da das meinende Selbst aber das sehende Selbst überlagert, ist es elementar, dass Citta zur Ruhe kommt. Nur so wird es durchlässig und wir können Situationen und Objekte mit unserem sehenden Selbst wahrhaftig, ungetrübt von Täuschung und Verwechslung, erkennen – die vollkommene Erkenntnis.
Kapitel 2: Die Übung
Dieses Kapitel beginnt mit einer Beschreibung der Kräfte, die den Geist stören (Kleshas, z.B. Angst oder Vorurteile). Über Kriya Yoga (rituelle, reinigende Handlungen) können sie abgeschwächt werden. Leid ensteht durch die Anbindung des sehenden Selbst an Objekte, also durch die eigene (getäuschte) Wahrnehmungsweise der Objekte und Gegebenheiten (Samyoga). Diese verschleierte Wahrnehmung kann über den achtgliedrigen Yogaweg geklärt werden, sodass Weisheit und differenzierte Erkenntnis entsteht. Die acht Glieder sind:
- Yama: Beherrschung des zwischenmenschlichen Verhaltens, Moral und Ethik (z.B. Gewaltlosigkeit, Wahrhaftigkeit)
- Nima: Regeln des Alltagsverhaltens (z.B. Reinheit, Selbstdisziplin)
- Asana: Körperhaltung
- Pranayama: Atemübungen, Beherrschung des Atems
- Pratyahara: Orientierung der Sinne nach Innen
- Dharana: anhaltende Ausrichtung, Konzentration
- Dhyana: stille Reflektion, Meditation
- Samadhi: Versenkung, vollkommene Erkenntnis
Die ersten fünf Schritte werden anschließend ausführlich erläutert, die letzten drei Glieder folgen im dritten Kapitel.
Kapitel 3: Die ungewöhnlichen Ergebnisse
Die letzten drei Schritte auf dem Yogaweg sind als Stufen der nach innen gerichteten Übung zu verstehen. Sie sind unter Samyama (Versenkung) zusammengefasst und erfordern bereits fortgeschrittene Kenntnisse, das bedeutet, eine gewisse Sicherheit in der Ausübung der ersten fünf Yogaglieder. Es wird eine Vielzahl von Themen angeboten, in die man sich versenken kann (z.B. die Konzentration auf einzelne Körperteile, auf menschliche Eigenschaften, auf Elemente der Natur oder auf die Beschaffenheit des Geistes). Welches Thema das richtige für einen selbst ist, kann man entweder durch beständiges Üben oder mit Hilfe eines Lehrers herausfinden. Mit der Zeit wird die Unterscheidungsfähigkeit des Übenden durch Samyama geschärft, womit die Schleier des wahrnehmenden Selbst gelüftet werden und das sehende Selbst zur vollkommenen Erkenntnis gelangt.
Kapitel 4: Die Befreiung
Das letzte Kapitel beschreibt den Zustand der Freiheit, den man durch Beschreiten des Yogaweges erlangt. Es handelt sich um eine innere Freiheit, die auf einer ungetrübten Wahrnehmung aller Objekte und Geschehnisse beruht. Durch beständiges Üben verändert sich die Persönlichkeit des Yogi nachhaltig. Er hat in letzter Konsequenz alle menschlichen Ziele erreicht und strebt nichts mehr an. Sein Leben verläuft in völligem Einklang, sein sehendes Selbst hat sich durchgesetzt. Das ist Patanjalis Verständnis von wirklicher Freiheit.
Das Yogasutra unbedingt lesen!
Die Lektüre des Yogasutra ist Pflicht für jeden Yogi, da in ihm das Ziel und die Grundpfeiler des Yoga erklärt werden. Es ist so kompakt und komplex, dass ihr es zum tiefgreifenden Verständnis besser selbst lest, denn ich kann euch hier nur einen ersten Überblick verschaffen. Ich werde es selbst wohl noch mehrere Male lesen und richtig durcharbeiten, um die Inhalte wirklich zu verinnerlichen. Was mir am Yogasutra so gefällt, ist, dass es neben philosophischen Aspekten auch konkrete Handlungsanweisungen enthält und trotz seiner Komplexität kurz gehalten ist. Dadurch wird es zu einem praktisch verwendbaren Arbeitsbuch.
Der Kommentar von R. Sriram ist dabei eine wahre Bereicherung. Er ist wunderbar durchdacht und erklärend! Sein logischer Aufbau mit der ausführlichen Einleitung und den Kapitelzusammenfassungen macht die teilweise doch eher kryptischen Sutras verständlich und verdeutlicht ihre Zuammenhänge. Auch die Wort-für-Wort-Übersetzung und jeweilige Erläuterung jedes Sutras trägt maßgeblich zum tieferen Verständis bei. Man bekommt gleich mehrere Herangehensweisen (Zusammenfassung, Übersetzung, Erläuterung) um die Sutras wirklich zu begreifen.
Die zentrale Botschaft des Yogasutra ist, dass das Leiden in der Welt nicht durch Handlungen sondern durch die Veränderung unseres Geistes verringert werden kann (Sutra 2.17). Diese Veränderung erfordert viel Übung. Ein langer Weg liegt vor uns, doch es wartet nicht weniger als innere Freiheit und wahre Erkenntnis auf uns. Also lasst uns den Weg beschreiten!
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